Im Rahmen der mittlerweile etablierten Reihe "Dellbrücker Gespräche" sprachen die Genossinnen Delber Othman und Berit Kranz zu dem brandaktuellen Thema "Krieg in Rojava/Nordsyrien - Der Krieg Erdogans und des IS gegen Nordsyrien"
Während Delber Othman als kurdische Syrerin, geboren in Kobani, den Krieg dort unmittelbar miterlebte, engagiert sich die gebürtige Kölnerin Berit Kranz im Rahmen zahlreicher Hilfsprojekte für die Menschen in dieser Region.
Diese 2 völlig unterschiedlichen Perspektiven auf den Konflikt im Norden Syriens waren sehr spannend. Die persönliche Betroffenheit beider Referentinnen: Delber Othman quasi mitten im Krieg und Berit Kranz nur wenige Kilometer entfernt auf der türkischen Seite der Grenze nach Kobani als Beobachterin, waren bedrückend und eindrucksvoll.
Nach einer Schilderung der Geschichte der Kurden im osmanischen Reich und der politischen Entscheidungen der Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich nach dem 1. Weltkrieg sind überall in dieser Erdregion künstliche Grenzen gezogen worden, die bis heute schwären. Bis heute gibt es namhafte Populationen von Kurden in der Türkei, im Irak, Iran und Syrien. Schon der Gründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, hatte den Kurden ihre Souveränität verweigert. Erdogan hinwiederum geht weit darüber hinaus: Für ihn sind die Kurden, wo immer sie auftreten, zu bekämpfen und mit ihnen alle Volksgruppen, mit denen sie ihre Heimat teilen. Erdogans Türkei hat die Truppen des "islamischen Staats" unterstützt im Kampf gegen die Nordsyrien verteidigenden Volksgruppen, zahlenmäßig überwiegend Kurdinnen und Kurden. Diesen Freiheitskampf auch insbesondere durch die kurdischen Frauen schilderte Delber Othman eindrücklich: Beseelt von den gesellschaftlichen Ideen des von der Türkei inhaftierten Abdullah Öcalan, der als wichtigsten Schritt zur Modernisierung der mittelöstlichen Gesellschaft die Befreiung und Gleichstellung der Frauen fordert und vor dem Hintergrund der grässlichen Massaker der "Gotteskrieger", insbesondere gegen Jesidinnen und andere Frauen, die entweder umgebracht oder als Sklavinnen: Sex-Sklavinnen! verkauft wurden, standen die Frauen in Nord-Syrien vor der Wahl: Entweder umgebracht oder versklavt zu werden oder sich mit Waffengewalt gegen die Dschihadisten zu stellen. Sie gründeten Frauenverteidigungseinheiten (kurdisch Yekîneyên Parastina Jin, Kürzel YPJ) und wehrten sich sehr erfolgreich gegen die Truppen des IS und vertrieben sie schließlich weitestgehend aus Syrien, auch mit Hilfe der USA. Kaum hatten die im Kampfgebiet lebenden Volksgruppen jedoch den IS vertrieben und sich selbst einen modernen Gesellschaftsvertrag mit Gleichberechtigung, Recht auf eigene Muttersprache, eigene Religion, Parteien und Gewerkschaften gegeben, wurden sie wiederum von den Truppen Erdogans angegriffen, die systematisch die gerade erst wieder aufgebaute Infrastruktur des Gebietes Rojava/Nordysyrien zerstörten. Immer mit dem Hinweis auf "Selbstverteidigung gegen die PKK". Berit Kranz zeigte auf, dass die türkische PKK in Verstecken in den Kandil-Bergen leben, die türkischen Bomben aber Krankenhäuser, Stromversorgung und weitere Infrastruktur in den Städten wie z.B. Kobani zerstören. Gleich nach Ende des Krieges der nordsyrischen Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer gegen den IS besetzte die Türkei die nordwestliche syrische Provinz Afrin und begann, die Kurden dort umzusiedeln. Auch weitere, durch die nordsyrischen Truppen befreiten Grenzgebiete zur Türkei wurden von dieser kurzerhand besetzt. Gezielt siedelt Erdogan konservative islamistische Kräfte in die von ihm besetzten Gebiete, um dieses moderne, gesellschaftliche Experiment Rojava, bei dem Araber, Assyrer, Christen und Kurden friedlich zusammenleben und sich demokratisch verwalten, zu unterminieren. Gerade auch die durch Erdogan direkt unterstützten Kräfte, die dieser Tage Aleppo und Homsk erobert haben, passen in diesen Plan.
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Da die Türkei für uns Deutsche ein wichtiger NATO-Partner ist, findet dieser Krieg gegen die Bevölkerung Nordsyriens auch mit deutschen Waffen statt. Besonders perfide ist auch, dass wir Erdogans "Drecksarbeit" miterledigen müssen: Deklariert Erdogan einen Freiheitskämpfer oder einen Funktionär für Rojava/Nordsyrien als Terroristen, müssen wir ihn nach dem Interpol-Gesetz aufspüren und ausliefern, wenn er bei uns ist.
Delber Othman berichtete von den vielversprechenden gesellschaftlichen Experimenten: So vom Frauendorf Jinwar, das komplett von Frauen: Kriegswitwen, alleinstehende Frauen, Mädchen, die im Krieg waren, betrieben wird. Diese leben dort und wirtschaften sehr erfolgreich. Interessanterweise gab es dies früher auch in Europa: die Beginenhöfe, die ja zumindest namentlich teilweise heute noch existieren, zeugen davon.
Berit Kranz beschrieb die zahlreichen Projekte, mit denen sie zusammen mit vielen Anderen die Gesellschaft dort unterstützt: Kinderkommitee, Frauenstiftung, Bildungsbüro, Unterstützung für behinderte Menschen, Unterstützung der zahlreichen Kinder von Gefallenen. Und nicht zuletzt von der Initiative, eine Städtepartnerschaft zwischen Köln und Qamishlo, einer Großstadt mit ca. 190.000 Einwohnern, zu stiften.
Die Anwesenden lauschten bis zur letzten Minute gebannt dem Vortrag über eine Welt, die man so nicht bei uns in den Zeitungen zu lesen bekommt.